Vortrag im Rahmen der dt.-poln. Fachtagung
Coll. Polonicum, Słubice
Archiv 2022
Schlesien zählt als Brückenland zwischen West und Ost zu einer der historisch interessantesten Regionen Mitteleuropas, deren architektonischer Ausdruck eine Fülle erhaltener Baudenkmäler ist, die unter polnisch-piastischer, böhmischer, habsburgischer, dann preußischer und bis 1945 deutscher Herrschaft entstanden. Außergewöhnlich ist dabei der große Bestand von mehr als 3.200 Schlössern und Herrenhäusern, die einst politisches, wirtschaftliches und soziales Zentrum der einzelnen Dörfer und Gemeinden, zugleich auch Keimzellen der kulturellen Entwicklung und Kulminationspunkte gesellschaftlichen Lebens der jeweiligen Region waren.
Viele dieser Gebäudeensembles sind infolge des Zweiten Weltkriegs, der Vertreibung der deutschen Bevölkerung und der Zeit des Sozialismus in beklagenswertem Zustand. Obwohl ein großer Teil der einst herrschaftlichen Wohnsitze bereits in den 1950er und 1960er Jahren unter Denkmalschutz gestellt worden war, zerfielen etliche von ihnen bis 1989 zu Ruinen. Daran änderte die politische Wende in Mittel- und Osteuropa nur wenig. Zwar wurden seit den beginnenden 1990er Jahren zahlreiche Schlösser und Herrenhäuser privatisiert, doch viele dieser Baudenkmale gingen durch Spekulation privater Eigentümer, weitere Vernachlässigung oder gar bewusste Zerstörung fast gänzlich zugrunde.
Zwar gibt es in Schlesien einige wenige touristische Brennpunkte wie das Hirschberger Tal/Kotlina Jeleniogórska – dessen Tourismuswerbung sich mit dem Slogan „Tal der Schlösser und Gärten/Dolina Pałaców i Ogrodów“ vor allem über die revitalisierte Schlösserlandschaft definiert –, jedoch die meisten Anlagen in den entlegeneren ländlichen Regionen sind längst marginalisiert.
Zumeist hat die dörfliche Bevölkerung, die während des Sozialismus die Schlösser und Herrenhäuser noch als gemeinschaftliche Orte genutzt hat (Kindergärten, Schulen, Hospitäler oder als Multifunktionsbauten mit regionaler Verwaltung, Kindergarten, Bibliothek und Nahversorgung), mit dem staatlichen Rückzug aus diesen Liegenschaften, den überproportional missglückten Privatisierungen und dem zunehmenden Verfall den Bezug zu den Anlagen verloren.
Regionale Perspektiven, diese zu revitalisieren und in das dörfliche Leben wieder zu integrieren, entwickeln sich zumeist nicht – sei es aus Mangel an Ideen, finanziellen Möglichkeiten oder behördlicher Unterstützung.
Andererseits belegen die große Zahl an Publikationen, einer auf die Landesgeschichte ausgerichtete Eventkultur (Nachstellung von Schlachten der Napoleonischen Kriege oder der Schlacht von Wahlstatt/Legnickie Polen 1241) und zahllose Blogseiten im Internet zu historischen Themen und Adelsgeschichte, dass das Interesse breiter Bevölkerungsschichten an der Geschichte der früher sogenannten „wiedergewonnenen Gebiete“ („Ziemie Odzyskane“) stetig wächst. Dadurch steigen die Chancen, die einstigen Adelssitze wieder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken.
Bilinguale Workshops für Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen können diese Entwicklung unterstützen. Dabei können nach ausführlicher Analyse der Bausubstanz, der lokalen Infrastruktur und der Bedürfnisse der Bevölkerung innovative Ideen, Konzepte und praktische Lösungswege zur Revitalisierung von Schlossanlagen entwickelt werden, die mit neuen Funktionen wieder einer öffentlichen Nutzung zugeführt würden.
Ein erfolgreiches, auch auf die Region der mittleren Oder übertragbares Pilotprojekt dieser Art fand in Zusammenarbeit des Deutschen Kulturforums östliches Europa mit dem Berliner Kunsthistoriker Arne Franke im August 2021 im südlichen Schlesien statt.
Diese Summer-School, der konzeptionelle Ansatz und die Ergebnisse sollen bei der Tagung vorgestellt werden.
Der Vortrag fand am 8. Juli 2022 im Rahmen der deutsch-polnischen Konferenz „Marginalisiertes Kulturerbe und Perspektiven für regionale Kulturentwicklung“ im Collegium Polonicum in Slubice statt.
Veranstaltungsort
Collegium Polonicum
Kościuszki 1,
PL 69-100 Słubice